Hinter den Fassaden der Globalisierung

Spaniens Süden, 16 Jahre nach dem EU-Beitritt
erschienen in “tranvia” und Kommune”, jeweils 2002
von Hartwig Berger

Inhalt

Andalusien im Jahre 2002

Der Arbeitsmarkt einer Wachstumswirtschaft

Landwirtschaft: Das dünne Eis des Produktivismus

Arbeit, Alltag und Politik

Andalusien im Jahre 2002

Die halbjährlich rotierende Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union wird von den Staatschefs gerne zur Selbstdarstellung politischer Erfolge genutzt. So wollte denn Spaniens Premier, José Maria Aznar, seinen europäischen Ratsvorsitz im ersten Halbjahr 2002 mit einem Abschlussgipfel in Sevilla krönen. Die größte Stadt Andalusiens erschien ihm geeignet, um auf die Erfolge Spaniens in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung aufmerksam zu machen. Schließlich kann das Land seit Jahren ein hohes Wachstum des Bruttosozialprodukts und einen unstrittig steigenden durchschnittlichen Lebensstandard vorweisen.

Spaniens Selbstdarstellung vor der europäischen Öffentlichkeit wurde allerdings gründlich verpfuscht. Einen Tag vor dem Gipfelereignis, am 20. Juni 2002, hatten alle Gewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen. Der landesweite Ausstand richtete sich gegen neoliberal geprägte Reformen der Arbeitsgesetzgebung und wurde von der überwiegenden Zahl der Lohnabhängigen geschlossen befolgt. Da auch alle Verkehrsmittel bestreikt wurden, musste der Beginn des EU-Gipfels am 21. Juni um einen halben Tag verschoben werden – keine Visitenkarte für die anreisenden hohen Staatsgäste.

Zugleich hatte die europäische Globalisierungsbewegung gegen den EU-Gipfel mobil gemacht. Die gesamte Woche über fand in Sevilla ein kritischer Gegenkongress statt; am 22. Juni demonstrierten 100.000 Menschen durch Sevilla, unterstützt von einem umfassenden Bündnis linker und gewerkschaftlicher Organisationen im Land.

16 Jahre nach Spaniens Beitritt zur Europäischen Union ist es Zeit, um Wirkungen der ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierung in Spaniens Süden zu bilanzieren, einer Region, die noch in den 70er Jahren eines der Armenhäuser Europas war

1992 zelebrierte Spanien den 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas mit der Olympiade in Barcelona und der Weltausstellung in Sevilla. Mit den Städten, von denen die Reise des Kolumbus und damit die Eroberung der Neuen Welt ausgegangen ist, hat das ganze Land wieder Anschluss an die Weltökonomie gefunden: das sollte die Botschaft sein. Die Expo in Sevilla wollte Impulse für die Ansiedlung moderner Technologien in der und um die Stadt geben.

Wer Jahre später durch das Gelände der damaligen Weltausstellung streift, findet außer einem teuren Freizeitpark Verfall und Ödnis. Die Pavillons sind leer, da Nachnutzungen fehlen, vermüllen die Eingangsbereiche und blättern die Fassaden. Die Promenaden an eigens gezogenen Kanälen wachsen in stiller Schönheit zu, öffentliche Verkehrsmittel haben ihre Zufahrten auf das Wochenende beschränkt. Der Expo-Glanz 1992 ist zur Architekturwüste 2000 geschrumpft.

Das Schicksal der Expo als Modernisierungsimpuls beleuchtet die Lage Andalusiens insgesamt. Die wenige Industrie ist überaltert und perspektivisch von Schließungen bedroht. Im Sommer 2002 kündigte die Nationalregierung ein Ende des gesamten verbliebenen Bergbaus in der Provinz Huelva an. Die einst wichtige Werftindustrie um die bevölkerungsreiche Bucht von Cadiz wurde bisher mit staatlichen Zuwendungen gehalten, die der Europäische Gerichtshof jetzt endgültig als unzulässige Beihilfen qualifiziert hat. Nur 15% aller industriellen Unternehmen der Provinz Cadiz wird ein „hohes technologisches Niveau“, 40% ein „niedriger Standard“ bescheinigt. Die Chemieindustrie von Huelva steht im Ruf starker Umwelt- und Gesundheitsbelastungen. In regelmäßigen Abständen werden starke unerlaubte Verschmutzungen der dortigen Flüsse gemeldet.

Das Scheitern einer nachholenden industriellen Modernisierung wird am Schicksal der Firma „Boliden“ deutlich, die seit den 80er Jahren den Abbau von Kupfer, Zinn und anderen Metallen in einem Gebiet zwischen Sevilla und Huelva betreibt. Die aus Schweden stammende Firma beschäftigte über 500 Arbeiter und erhielt in EU-Kofinanzierung mindestens 25 Millionen Euro an Förderung. Das Abbaugebiet lag nördlich von einem landwirtschaftlich intensiv genutzten Gebiet, das nach Süden zu in das Mündungsdelta des Guadalquivir, den „Coto de Donana“, übergeht. „Donana“ ist das wichtigste Rastgebiet zahlloser Zugvögel auf ihrem Weg von und nach Afrika.

Die sensible Lage des Abbaus gab mehrfach Anlass zu Warnungen ökologischer Gruppen, die der Firma „Boliden“ einen fahrlässigen Umgang mit Abwasser und Abfällen vorwarfen. Am 28. April 1998 brach dann der Damm des weiträumigen und hoch mit Schwermetallen, Säuren und Arsen angereicherten Absetzbeckens; riesige Mengen an Giftschlämmen ergossen sich über die Felder und in einen Seitenfluss des Guadalquivir, der direkt auf das Mündungsdelta zuläuft. Die Böden sind für Jahrzehnte kontaminiert, eine notdürftige Beseitigung der schlimmsten Schäden hat den spanischen Staat bis zum vierten. Jahrestag der Katastrophe 120 Millionen Euro gekostet. Die Firma entging der Zahlung von Schadensersatz weitgehend, vor einigen Monaten erklärte sie ihre Insolvenz. Die 425 entlassenen Arbeiter machen seitdem mit Straßenblockaden, Demonstrationen und einer Besetzung der Kathedrale von Sevilla vergeblich auf ihre Lage aufmerksam.

Der Arbeitsmarkt einer Wachstumswirtschaft

Neoliberales Wirtschaftsdenken verspricht, durch mehr Wachstum die Probleme der Massenarbeitslosigkeit zu verringern. Spaniens Entwicklung seit 1986 ist da jedoch ein eindrucksvoller Gegenbeweis. Das Land erlebt ein ununterbrochenes Wirtschaftswachstum auf hohem – und ökologisch verantwortungslosem – Niveau, zugleich bleibt der Anteil der Beschäftigten, insbesondere der beschäftigten Frauen, weiter hinter dem EU-Durchschnitt zurück. Die offizielle Statistik verzeichnet im Februar 2002 eine Arbeitslosigkeit von 12,7%; Andalusiens registriert um dieselbe Zeit 22,3%, nach anderen Berechnungen 25,3% Arbeitslose. Die Provinz Cadiz ist mit 28% EU-weite „Rekordhalterin“ – und das bei einem selbst für Spanien überdurchschnittlichem BSP-Wachstum!

Entsprechend prekär entwickelt sich das System der abhängigen Beschäftigung in Spanien und besonders in Andalusien. In der Übergangsperiode zur europäischen Demokratie haben Spaniens Sozialisten ihre Kapitalismus-freundliche Politik mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass die Ausbeutungsverhältnisse unter der franquistischen Diktatur besonders exzessiv und die Arbeiter ohne Rechte waren. Im Rückblick ist jedoch die Feststellung zutreffender, dass der Kapitalismus in Spanien die für ihn günstigen Vorbedingungen der Franco-Ära genutzt hat, um eine aus seiner Sicht erwünschte Deregulierung des Arbeitsmarkts wirkungsvoller als in Kernländern der Europäischen Union zu betreiben. Ich will diese These an der Entwicklung in Andalusien erläutern.

Arbeit zum Tagelohn hat in dieser Region eine lange Tradition, in der Landwirtschaft und im Bausektor war sie die Regel. Mitte der 70er Jahre waren 90% der damals 450.000 Landarbeiter „eventuales“, die für saisonal begrenzte Tätigkeiten angefordert und nach deren Abschluss ohne irgendwelche Rechtsansprüche entlassen wurden. Zugleich war die soziale Sicherheit der wenigen Festangestellten mit extrem niedrigen Löhnen „erkauft“. Nach der demokratischen Wende in Spanien erkämpften die LandarbeiterInnen Andalusiens mit Streiks, Demonstrationen, Blockaden, Landbesetzungen und selbst Hungerstreiks schrittweise minimale Beschäftigungsprogramme und in den 90er Jahren einen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe. Die Rechtsregierung von Aznar kündigt jetzt den Abbau dieser Rechte an und stößt damit in Andalusiens und Extremadura auf harten Widerstand.

Im Schatten begrenzter Zugeständnisse hat die spanische Wirtschaftspolitik bereits unter den von 1981 bis 1995 regierenden Sozialisten abgeschwächte Formen der Zeitarbeit weiter zugelassen. Unter der neoliberal agierenden „Volkspartei“ werden sie jetzt immer mehr zur Regel. Im Jahr 2002 gelten 30% aller Beschäftigungsverhältnisse auf Zeit, in Andalusien sind es über 40%. Der Trend weist klar in Richtung „Zeitarbeit“. Im Jahr 2001 waren nur 3,3% aller neuen Arbeitsverträge in Andalusien fest abgeschlossen, der Rest war befristet oder jederzeit kündbar. EU-weit liegt Andalusien mit dem Anteil an befristeter Arbeit ganz vorne. Zugleich ging die Zahl der Beschäftigten in der Region, trotz wachsendem BSP, im Jahr 2001 um 4,3% zurück.

Wer heute die mit mehreren Tausend Einwohnern urban wirkenden „Dörfer“ Andalusiens bereist, wird nur eine kleine Minderheit von Männern und kaum eine Frau mit fester Arbeit treffen. Die große Bevölkerungsmehrheit lebt von wechselnden und unterschiedlichen Tätigkeiten in der saisonal begrenzten Landwirtschaft, von Bauprojekten oder nachbarschaftlicher Bauhilfe, im breit gefächerten lokalen Dienstleistungssektor oder in der aufstrebenden Tourismusbranche an den Küsten. Oft verwischen die Unterschiede zwischen Lohnarbeit und Kleingewerbe. In Kleinbesitz oder Kleinpacht wird bei Familienhilfe intensive Land- oder Viehwirtschaft betrieben; andere Familien ergänzen das sporadisch fließende Lohneinkommen und die mit 350 Euro monatlich spärliche Arbeitslosenhilfe durch Sammlertätigkeiten auf dem Land, manchmal durch Fischerei oder illegal betriebene Jagd. Andere suchen eine ökonomische Stütze durch örtliche Läden oder anderen Kleinhandel. Besonders schwierig ist die Einkommenssuche für Frauen, die Jobs vorwiegend durch Pendelarbeit im schlecht bezahlten großstädtischen Dienstleistungsgewerbe finden.

Allerdings wird die Prekarität der Lohnarbeit durch bescheidene Wohlstandszuwächse kompensiert. Arbeiterfamilien können sie aber nur in Anspruch nehmen, weil sie aus Not sehr flexibel in der Aufnahme der verschiedensten Tätigkeiten und einfallsreich in der Nutzung von Einkommensquellen und den Chancen der florierenden Schattenwirtschaft sind. Der Anteil der Schattenwirtschaft in Andalusien wird auf 25% geschätzt, dürfte aber in den Landorten bis zu 50% der Umsätze umfassen.

So ist krasse Armut in den ländlichen Gebieten Andalusiens seltener geworden. Die Mehrheit der Arbeiterfamilien konnte sich mit Ersparnissen und Krediten ein Haus bauen oder eine Wohnung erwerben. Standards der westeuropäischen Arbeiterhaushalte werden in Andalusien mit Farbfernseher, gekacheltem Bad, Wohnzimmer mit Sesselgarnitur und Glasvitrine erreicht. Die Automotorisierung der Männer liegt in den Dörfern über 30%, während noch in den 70er Jahren das Moped übliches Fortbewegungsmittel der Landarbeiter gewesen ist.

Das derzeit relativ günstige Lebensniveau hängt allerdings von der guten Dauerkonjunktur des Landes ab, die seit den 70er Jahren ohne Unterbrechungen anhält. Jeder ökonomische Einbruch, auch nur eine wirtschaftliche Stagnation, wird über die prekären Arbeitsverhältnisse sofort auf die Menschen durchschlagen und vor allem die Lage der gering und wenig Qualifizierten – in Andalusien eine Bevölkerungsmehrheit – verschlechtern.

Landwirtschaft: Das dünne Eis des Produktivismus

An der Situation der Landwirtschaft kann verdeutlicht werden, wie dünn das Eis der immer mehr auf globale Märkte ausgerichteten andalusischen Ökonomie ist. Von diesem Wirtschaftszweig hängen in der Region noch 12-15% aller Erwerbstätigen ab. Andalusien gilt als klassische Region des Grundgrundbesitzes, der langjährige Kampf des vorwiegend anarcho-syndikalistisch organisierten Landproletariats, das mit dem faschistischen Militärputsch 1936 blutig unterdrückt wurde, ist fast Legende. In der Provinz Cadiz sind 2/3 aller landwirtschaftlich genutzten Flächen Betrieben über 200 Hektar zugeordnet, wobei ein Landbesitzer oft über mehrere große „cortijos“(Höfe) verfügt. 30% des Landes gehören zu Gütern, die jeweils mehr als 1.000 Hektar Land umfassen. Daneben existiert in manchen Gebieten ein Sektor von Kleinsteigentum, der an Zersplitterung in Westeuropa kaum übertroffen wird.

Von alters her hat das Landproletariat dem Großgrundbesitz in Andalusien nachlässiges Wirtschaften und eine geringe Ausnutzung der Produktivität des Landes vorgeworfen. Spätestens mit dem EU-Beitritt Spaniens wurde diese Kritik obsolet. Insbesondere im ökologisch anfälligen Süden hat sich ein gnadenloser Produktivismus durchgesetzt. Wo irgend möglich, wird Land unter den Pflug genommen, wird landschaftliche Vielfalt monokulturellem Anbau geopfert. Der Einsatz von Chemie ist hoch, große Gütern in der Provinz Cadiz versprühen die Pestizide selbst per Flugzeug. Die bodenschonende extensive Weidewirtschaft geht zurück, auch stark erosionsgefährdete Hänge werden für den Ackerbau oder die Plantagenwirtschaft aufgeschlossen. Die Bewässerung wird weiter ausgeweitet, obwohl Andalusien immer mehr unter Wasserknappheit leidet. So wurde mehr Baumwoll-Anbau für 2002 genehmigt. Dabei muss man wissen, dass ein Hektar Baumwollkultur bis zur Ernte die Zuleitung von 6.000 bis 11.000 m3 Wassers benötigt und dass für den Schutz der Pflanzen hier besonders viel Pestizide eingesetzt werden . Die andalusische Regionalregierung plant dennoch eine landesweite Ausweitung der Aquikultur um 4.000 Hektar und nutzt dazu die Strukturförderung der EU.

Die großen Wein-, Obst, Oliven- und Getreidekulturen Andalusiens ( und Extremaduras) werden um intensive Kleinlandwirtschaft wie Gemüseanbau, Wein und Blumenzucht ergänzt, die inzwischen auf den europäischen Markt ausgerichtet sind. Ganze Landstriche der Provinz Almería sind heute in ein Plastikmeer künstlicher Treibhäuser verwandelte, in denen vielfach illegal arbeitende Einwanderer aus Marokko, Peru und Osteuropa unter miserablen Bedingungen und hohem Chemieeinsatz arbeiten.

Der Produktivismus der Landwirtschaft ist Andalusiens größte ökologische Hypothek für die Zukunft. Der intensive Anbau schädigt die Böden stärker als das in den gemäßigten Zonen Europas der Fall ist. Die in Kopenhagen ansässige Europäische Umweltagentur warnt seit Jahren vor besonders verheerenden Auswirkungen des Klimawandels auf die mediterrane Landwirtschaft. Insbesondere Andalusien werden lang anhaltende Dürren und weiträumige Wüstenbildung vorausgesagt.

Weder die spanische Zentral- noch die andalusische Regionalregierung reagiert auf die Warnungen. Dabei sind die Anzeichen möglicher Desertifikation unverkennbar. Nach dem Sozio-Ökonomischen Jahrbuch von 1999 wird in der Provinz Cadiz die Erosion auf 26% aller genutzten Böden als „hoch bis sehr hoch“ und nur bei 9% als „gering“ eingestuft. Hinzukommt die Verknappung der Wasserressourcen. Die Stauseen waren im Winter 2001/2002 nur zu durchschnittlich 2/3 des Normalstandes gefüllt. Fachleute auf einem Kongress in Sevilla berichten von deutlichen Rückgängen der Wassermengen in den andalusischen Flusseinzugsgebieten. Im Becken des Guadalquivir sagen sie bis 2030 einen Rückgang um 37%, in den zum Mittelmeer entwässernden Flüssen sogar um 50% voraus.

Nicht Umkehr zu schonendem Trockenbau sondern intensivierte Bewässerung ist bisher die Antwort der Politik. Gewinnbringende Ertragssteigerung stellt die Sorge um langfristige Sicherung in den Schatten. So will die Zentralregierung jetzt gespenstische Pläne noch aus der Zeit des Franquismus verwirklichen: Über riesige Kanalnetze soll Wasser des größten nordspanischen Flusseinzugsgebiets, des Ebro, über 1000 km weit in den wasserhungrigen Süden umgeleitet werden. Neben der landwirtschaftlichen Überproduktion, die in Spanien 80% aller Wassernutzungen aufsaugt, will man damit ein zweites wirtschaftliches Standbein im Süden sichern: den Tourismus. Er bietet Andalusien gegenwärtig 165.000 (Zeit)Arbeitsplätze, eine anhaltende Baukonjunktur an immer mehr zersiedelten Küsten und ein bisher anhaltend hohes Wachstum, 10% allein im Jahr 2001.

Das Umleitungsprojekt des Ebro würde nach amtlichen Berechnungen 33 Milliarden Euro verschlingen und aus der EU-Strukturhilfe mitfinanziert werden. Die externen Kosten der Umweltzerstörungen in den Tälern, Ebenen , Flußauen und dem Ebrodelta des Nordens sind da nicht mitgerechnet. Dieser monströse „Nationale Wasserplan“ provoziert massive Proteste in Katalonien und Aragonien So demonstrierten eine Woche vor dem EU-Gipfel in Barcelona, am 10. März 2002, 200.000 Menschen in der katalanischen Hauptstadt und 30.000 in Zaragoza gegen das Ebro-Projekt. Kein anderer Umweltkonflikt hat im Europa der letzten Jahre so viele GegnerInnen mobilisiert.

Die produktivistische Landwirtschaft für den Weltmarkt ist nicht nur ein ökologisches Damoklesschwert in der Region, sondern auch ein latenter Herd für soziale Krisen . Die Wirtschaft ganzer Städte wird von Marktschwankungen und Markteinbrüchen abhängig. So macht der arbeitsarme Anbau von einjährigen Ölsaaten den sehr arbeitsintensiven Olivenkulturen Konkurrenz. Nur anhaltender Regierungsdruck auf hohe Produktlizenzen in der EU hat bisher bewirkt, dass beide Ölproduktionen koexistieren. Spanien engagiert sich damit aber aus kurzsichtigem Eigeninteresse gegen eine überfällige sozialökologische Reform der EU-Agrarpolitik, obwohl vor allem sein ökologisch besonders verwundbarer Süden eine Strategie „Klasse statt Masse“, die Umstellung der Finanzhilfen auf umweltschonenden Anbau und auf „Landschaftswirtschaft“ dringend braucht.

Im Kampf um den Erhalt von Arbeitsmöglichkeiten unterstützen die zwei großen Gewerkschaften, CC.OO. und UGT, bisher den produktivistischen Weg. Welche Risiken das gerade für ihre Mitglieder und Anhänger, die Landarbeiter und Arbeiterbauern, mit sich bringt, soll an zwei Produktionszweigen um die 62.000 Einwohnerstadt Sanlúcar de Barrameda verdeutlich werden, die an der Mündung des Guadalquivir in den Atlantik liegt. Hier und in zwei kleineren Nachbargemeinden konzentriert sich 90% der spanischen Schnittblumenkultur, die durchweg in Treibhäusern stattfindet. Sie wurde mit dem EU-Beitritt von der niederländischen Blumenindustrie angestoßen, um die günstigen klimatischen Bedingungen und die frühe Reifezeit des Südens zu nutzen. 2/3 der Ernte geht in den Export, zu 50% nach Holland, zu einem Drittel nach Großbritannien. Die Blumenkultur wird auf Pachtland oder Kleinbesitz von selbstarbeitenden Familien betrieben; sie beschäftigt 9.000 Menschen in der Produktion und 3.000 im Handel.

In dieser Saison führten ein kalter Winter und ein schneller Wärmeanstieg im Frühjahr zu massiver Überproduktion und zu einem Preissturz unter die Herstellungskosten. In einem hilflosen Protest schütteten die Blumenbauern ihre Ernte ins Meer. Ein Markteinbruch wie dieser setzt das Jahreseinkommen von schätzungsweise 2.000 Familien aufs Spiel. Mittelfristig ist zudem zu erwarten, dass Andalusien wegen der geringeren Arbeitskosten in Marokko, dem Senegal oder zunehmend Kolumbien vom nordeuropäischen Markt wieder abgeschnitten wird. Um von der ökologischen Absurdität nicht zu reden, dass nordeuropäische Innenräume durch Blumen dekoriert werden, die auf langen Ferntransporten zu Lande oder in der Luft durch Kühlung frisch gehalten werden müssen.

Eine ähnliche Bedeutung hat im Gebiet um Sanlúcar der Anbau des hochprozentigen „Manzanilla“, einer dem „Sherry“ aus Jerez eng verwandten Rebsorte. Der Weinbau hat allerdings eine langjährige Tradition, hier wurde mit dem Kampf der Weinarbeiter und kleinen Weinbauern in den 50er und 60er Jahren die Selbstorganisation der Comisiones Obreras neben und gegen das franquistische Zwangssyndikat von Arbeitern und Unternehmern gegründet.

Betrieben wird der Weinbau in Großgrundbesitz und in genossenschaftlich gestütztem Klein- und Kleinstbesitz. Der innerstaatliche Absatzmarkt ist mit dem Vordringen nordeuropäischer Getränkekultur eher rückläufig. Der Auslandsmarkt hingegen wird von weltbekannten Weinkellereien wie „Osborne“ und „Terry“ beherrscht, deren Kapital mit dem Großgrundbesitz verbunden ist. Die kleineren Weingenossenschaften sind damit anfällig für Überproduktionskrisen, die das Jahreseinkommen vieler Familien stark vermindern. So mussten die Kooperative in diesem Jahr die Weinpreise deutlich senken, um ihre wertvolle Ware überhaupt absetzen zu können.

Arbeit, Alltag und Politik

Etwa jede/r zweite Andalusier/in lebt unter den wirtschaftlich unsicheren Zuständen von Tagelohn, Zeitarbeit, stark wechselnder Beschäftigung, von Kleingewerbe und im kaum durchschaubaren Netz der Schattenwirtschaft. Die starke Unsicherheit trägt dazu bei, dass großfamiliäre Solidaritäts- und Interaktionsstrukturen erhalten bleiben, die das Leben der Arbeiterklasse in Andalusien seit jeher prägen. Die Bindungen stellen sich vor allem über die häusliche Arbeit und den häuslichen Zusammenhang der Frauen her, wobei die Mutter-Tochter Beziehungen über eine Heirat hinaus das wichtigste bindende Element sind.

Die Ungesichertheit von Arbeit und Einkommen führt auch nicht zur Abwanderung aus den ländlichen Gebieten und ihrer demographischen Verödung. Die Einwohnerzahl der wenigsten Landorte ist den letzten zwei Jahrzehnten zurückgegangen, in manchen Orten ist sie sogar gestiegen. Dafür gibt es vielfache Gründe: Die Abwanderung in die spanischen Industriegebiete ist wegen dort schwindender Arbeitsmöglichkeiten weniger attraktiv. Die begrenzten Wohlstandsgewinne der letzten Jahre eröffnen den Familien die Möglichkeit, ihre Stellung im Heimatort zu festigen. Der Bau von Wohnungen ist wegen der Bodenpreise, der informellen Arbeitsmärkte und der innerfamiliären Arbeitsverpflichtungen weit ökonomischer als der Erwerb einer (Groß-)Stadtwohnung. Vorübergehende Arbeit in anderen innerspanischen und auch europäischen Regionen ist aus Andalusien weiterhin häufig. Die Identifikation mit den örtlichen Lebenszusammenhängen ist weiterhin groß und wird in alltagskulturellen Bräuchen wie den beliebten Ortsfesten der „Romería“ und der „Feria“, mit Stierkämpfen in den Ortsstraßen oder den Prozessionen der Osterwoche befestigt. Diese Festivitäten finden heute weit mehr Zulauf und Resonanz als noch vor zwei Jahrzehnten. Schließlich hält das erwähnte System der Arbeitslosenhilfe für LandarbeiterInnen, auf das gegenwärtig 201.000 Frauen und Männer potentiell Anspruch haben, die Familien am Ort.

Die gleichwohl schwierige materielle Lage der Volksklassen führt in Andalusien bisher nicht zur politischen Rechtsentwicklung, anders als etwa in der französischen Arbeiterschaft, die mit 30% die inzwischen wichtigste WählerInnenschicht des rechtsradikalen „Front National“ ist, während die französischen (Post-)Kommunisten vor allem in diesem traditionellen Milieu eingebrochen sind. Die Andalusier/innen wählen, seit sie mit der Einführung demokratischer Verhältnisse wählen können, mehrheitlich klar links, und das besonders ausgeprägt in Landorten mit hohen Anteilen von Arbeiterfamilien. Beim landesweiten Triumph der rechten „Volkspartei“, die bei den Nationalwahlen 2000 die absolute Mehrheit der Parlamentssitze errang, war Andalusien der einzige rosa-rote Farbfleck. Hier regieren seit dem demokratischen Wandel ununterbrochen die Sozialisten, deren Politik allerdings weiter auf eine Wachstumsökonomie ohne Beachtung ihrer ökologischen Folgen setzt Ihr Bündnis mit den zahlenmäßig schwachen Grünen hat bisher nur zu deklaratorischen Kurskorrekturen geführt, nicht zu einem wirklichen ökologischen Politikwechsel.

Jose-Maria Aznar wollte auf dem EU-Gipfel in Sevilla „sein“ Erfolgsmodell wirtschaftlicher Modernisierung vorweisen. Die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit in Andalusien hatte er dafür erkennbar nicht. In vielen Landorten wurde stattdessen für die Proteste gegen den Abbau der Arbeitslosenhilfe mobilisiert. Am 10. Mai „probten“ 2.000 Landarbeiter mit einer zweistündigen Blockade einer wichtigen Nationalstraße – „ohne Zwischenfälle und mit Bildern von Ché Guevara“, wie die regionale Presse meldet. Zugleich schlagen die linken Bürgermeister aus Orten mit besonders hohen Anteilen an LandarbeiterInnen Alarm. Die Dörfer würden unweigerlich veröden, da ohne Arbeitslosenhilfe viele Menschen weggehen müssen. „Wenn es die (Arbeitslosenhilfe) nicht mehr gibt, gibt es wieder Hunger und Emigration. Aber wir finden heute kein Katalonien oder Deutschland mehr, wohin wir (mit Aussicht auf Arbeit) gehen können“, erklärte der Bürgermeister des Dorfes Algar in der Provinz Cádiz.

Für die Menschen (nicht nur) des ländlichen Andalusien überlagern die Schatten eines unsicheren „morgen“ das Licht eines bescheidenen Wohlstands von „heute“. „Brot für heute, Hunger für morgen“ ist ein geflügeltes Wort unter den andalusischen LandarbeiterInnen, mit denen sie ihre unklare und unsichere materielle Situation beschreiben. Die bittere Erfahrung mit faschistischer Unterdrückung über Jahrzehnte und ein weiterhin lebendiger familiärer und nachbarschaftlicher Zusammenhalt sind Gründe dafür, dass sie billige rechtspopulistischen Parolen von Rechtspopulisten bisher nicht auf den Leim gehen.

Der zitierte Spruch umreißt nicht nur eine grundlegende Existenzunsicherheit breiter Bevölkerungsschichten. Er zeichnet auch die Schatten einer nicht mehr fernen Zukunft für die ganze Region vor. Mit der produktivistischen Landwirtschaft gräbt Andalusien im Wortsinn Wasser und Boden für kommende Jahrzehnte ab. Gleichzeitig werden die wertvollen Küstenregionen für die Tourismusindustrie und für Zweitwohnungen der großstädtischen Bourgeoisie aus Madrid oder Sevilla zersiedelt. Die Städte fressen sich kaum kontrolliert ins Land; für eine urbanisierte Region wie die Bucht von Cadiz und ihre 600.000 Einwohner liegt erst jetzt der Entwurf eines verbindlichen Flächennutzungsplans vor. Ein gigantisches Straßenprogramm hat Landschaften zerschnitten und wird umgebremst fortgesetzt. In Asphalt ist der Löwenanteil der EU-Förderung geflossen, nicht hingegen in die dringend nötige Abwasserreinigung: 25% aller Abwässer Andalusiens werden noch ohne jede Vorbehandlung ins Meer oder in Binnengewässer geleitet. Den meisten bestehenden Kläranlagen wird eine schlechte Funktionsfähigkeit bescheinigt. Mülldeponien unterlaufen vielfach gesetzliche Bestimmungen und werden immer wieder als offene Verbrennungsanlagen genutzt.

Die Region bleibt auch weit hinter ihren klimatischen Möglichkeiten für eine Energiewende zurück. Immerhin soll bis 2010 12% des regionalen Energiebedarfs, der im Strombereich allerdings um 3,5% jährlich wächst, vom Sektor der Erneuerbaren abgedeckt werden. Dennoch bleiben die Nutzung der Windkraft, der Solarthermie, der Photovoltaik und der Biomasse bisher bescheiden. So wurde gerade ein geplanter Windpark mit 153 Anlagen durch eine Gemeinde in Nähe des Atlantik verhindert, weil sie Einschränkungen beim Tourismus befürchtet. Und statt eine erkennbare Energiesparstrategie zu entwickeln, setzt die Regionalregierung auf den Bau von 12 neuen fossilen Kraftwerken bis 2010, stößt hier allerdings auf den Widerstand einer insgesamt wachsenden und sehr aktiven Umweltbewegung.

Welche Zukunftsperspektiven hat diese Region? Die Schatten, die die Einbindung in die ökonomische Globalisierung auf Andalusien wirft, werden länger. Die Besucher dieses zweifellos faszinierenden Landes- – aus Deutschland waren es 2001 1,3 Millionen – werden davon wenig bemerken. Die helle Sonne des Südens überblendet nur zu leicht die vielen dunklen Flecken, die sich hier dennoch unverkennbar abzeichnen.

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